Deep-Learning-Netzwerke auf einem hohen diagnostischen Niveau

Dr. Björn Müller-Edenborn, Universitäts-Herzzentrum Bad Krozingen, gab zu Beginn des Symposiums, das unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Daniel Steven, Herzzentrum der Universität zu Köln, und Prof. Dr. Roland Richard Tilz, Klinik für Rhythmologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck, stattfand, einen Überblick über den Stand der künstlichen Intelligenz (KI; Artificial Intelligence, AI) in der Kardiologie.

Künstliche Intelligenz meint derzeit vor allem die Lösung spezifischer Anwendungsprobleme, wobei die Systeme zur Selbstoptimierung und zum Lernen fähig sind. 

Die Entwicklungsarbeit beginnt in der Regel damit, dass das Sy­stem anhand von großen, vorab vali­dierten Datenmengen lernt, sinnvolle und relevante Information zu extrahieren, indem es Muster – Ähnlichkeiten, Regel­mäßigkeiten, Wiederholungen – erkennt. Auf diese Weise werden Merkmale identi­fiziert und klassifiziert, die mit Hilfe von Algorithmen in automatisierte Regeln um­gesetzt werden.

Bei der Sichtung der Studienlage seit 2017 sehe man vermehrt Publikationen, die sich mit KI-Netz­werken in der Kardiologie beschäftigten, konstatierte Müller-Edenborn. Dazu zählen Studien, die be­legen, dass Deep-Learning-Netzwerke Herzrhythmusstörungen auf einem sehr hohen diagnostischen Niveau anhand von Elektrokardiogrammen (EKG) klassifizieren können.1 Die Studienlage zeige zudem das diagnostische Zukunftspotenzial von künstlicher Intelligenz. Müller-Edenborn verwies auf erste Studien u.a. zur Vorhersage der Mortalität2 oder zur Detektion von Anämien3.

Das Plenum war sich einig, dass künstliche Intelligenz aufgrund ihrer Überlegenheit zukünftig eine große Rolle in der klinischen Praxis spielen wird. Gleichzeitig werde es um die Nachvollziehbarkeit der KI-Systeme durch die Kardiologinnen und Kardiologen gehen, meinte Müller-Edenborn: „Wir müssen uns damit auseinandersetzen.

Herzrhythmusdiagnostik mit der Smartwatch?

Die Entwicklung neuer digitaler Verfahren verläuft rasant. Immer mehr so genannte Wearables kommen auf den Markt, die neben Freizeitanwendungen u.a. auch Herzfrequenzmessung anbieten. Prof. Dr. David Duncker, Hannover Herzrhythmus Centrum an der Medizinischen Hochschule Hannover, sprach in seinem Übersichtsvortrag darüber, welche digitalen Geräte in der Langzeit-Rhythmus­diagnostik sinnvoll eingesetzt werden können. 

Sein Fazit: Ein Teil der Rhythmusdiagnostik könne mit Hilfe externer digitaler Devices im Sinne einer Ergänzung oder Erweiterung erfolgen – bei Patientinnen und Patienten mit Symptomen und ohne hämodynamische Beeinträchtigung.4 Ins­besondere bei der Diagnostik des symptomatischen paroxysmalen Vorhofflimmerns sei dies der Fall. Zudem gebe es Chancen, mit Hilfe dieser einfach zugänglichen Devices das systematische Bevölkerungs­screening für Vorhofflimmern auf neue Beine zu stellen und verwies dabei auf die viel­versprechenden Ergebnisse der STROKESTOP-Studie aus Schweden.5

Letztlich, so Duncker, komme es auf einige Kriterien an, um das passende Monitoring auszuwählen: „Die Auswahl hängt von der Häufigkeit und vom Einfluss der Arrhythmie auf die Bewusstseinslage des Patienten ab. Ist er noch in der Lage, bei einer akuten Arrhythmie eine Smartwatch oder ein Smartphone zu aktivieren? Auch bei gefährdenden Arrhythmien brauchen wir zuverlässige Devices wie die gut etablierten, implantierbaren Herzmonitore, die keine Aktivierung durch den Patienten vorsehen. Und schließlich wird der Einsatz des Verfahrens von der digitalen Kompetenz sowohl des Patienten als auch des behandelnden Arztes abhängen,“ konstatierte Duncker.


Implantierbare Herzmonitore seien daher in bestimmten diagnostischen Situationen wie dem kryptogenen Schlaganfall oder der Synkope unerlässlich. Dies ist auch durch die Leitlinien6,7 gedeckt. Duncker verwies darauf, dass sie ein wirklich kontinuierliches Monitoring ermöglichten, ohne dass eine Aktivierung durch die Patientinnen und Patienten notwendig sei.

Deutliche Reduzierung falschpositiver Alarme durch KI

Bei genau diesen implantierbaren Herzmonitoren geht die technologische Entwicklung genauso rasant weiter, wie
Prof Dr. Sergio Richter
, Herzzentrum Dresden, Universitätsklinik an der Technischen Uni­versität Dresden, zeigen konnte. In der Vergangenheit habe es hohe Raten falschpositiver Alarme vor allem bei Vorhofflimmern und Asystolien gegeben, die eine entsprechende Arbeitszeitbelastung für das auswertende Klinikpersonal mit sich gebracht habe. Medtronic habe 2017 mit der Einführung des TruRhythmTM-Algorithmus und 2020 mit dem LINQ IITM Herzmonitor die Rate der falsch-positiven Alarme bereits deutlich verbessert bei gleichzeitiger Erhaltung einer hohen Sensitivität.8,9,10 „Dennoch gibt es noch Luft nach oben, um die Algorithmen weiter zu verbessern“, konstatierte Richter.

Für die Lösung dieses Problems kommt nun künstliche Intelligenz ins Spiel. Richter stellte die beiden neuen cloudbasierten AccuRhythm AI-Algorithmen vor, die Medtronic derzeit für die weitere Reduzie­rung der beiden häufigsten falschpositiven Ereignismeldungen11,12 in der Herzmonitor-Diagnostik – Vorhofflimmern (Atrial Fibrillation, AF) und Asystolie (Pause) – einführt. Sie werden künftig automa­tisch auf alle Datenübertragungen des LINQ II Herzmonitors angewendet, die in das CareLink™-Netzwerk fließen.

Richter erläuterte, dass die beiden AI-Algorithmen anhand von mehr als 1 Million EKGs von kardialen Ereignissen trainiert wurden, um anhand spezifischer Merkmale und Muster Korrelationen für falsche oder echte Ereignisse zu erkennen. Das Netzwerk wägt jedes Wellenform­merkmal und jede Segmentbeziehung des EKG gegeneinander ab und bewertet es, um festzustellen, ob ein Ereignis wahr oder falsch ist. Aus diesem Grund war es entscheidend, dass die Trainingsdaten eine beträchtliche Menge und Variation relevanter EKG-Wellenformen enthiel­ten. Es wurde deshalb eine große Anzahl seltener und klinisch kritischer Arrhyth­mien einbezogen, um die Patientensi­cherheit bei der AI-Beurteilung zu gewährleisten.  Die AccuRhythm AI-Algorithmen greifen damit auf eine umfassende klinische Erfahrung zurück. Die Trainingsdaten wurden vorab von klinisch erfahrenen Expertinnen und Experten überprüft und als echt oder falsch eingestuft.

Die Behandlerinnen und Behandler erhalten nur die als richtig-positiv gewerteten Alarme zur Befun­dung, es sei denn, die künstliche Intelligenz wird bewusst umgangen, um potenziell klinisch bedeutsame Ereignisse sichtbar zu machen („Bypass“-Regel).

Die neuen AccuRhythm AI-Algorithmen verbessern die bereits sehr gute Spezifität des LINQ II deutlich bei gleichzeitiger Erhaltung der Sensitivität: Der Pausen-Algorithmus reduzierte falsche LINQ II Pausen­alarme um 97,4 % und detektierte 100 % der echten Pausenalarme.13 Der AF-Algorithmus reduziert falsche AF-Alarme des LINQ II Herzmonitors um 74,1 % und erfasste 99,3 % der echten AF-Alarme.14 Richter wies darauf hin, dass dies auch Einfluss auf die Ressourcen in der Klinik habe: Das Klinikpersonal kann bei 100 LINQ II Patientinnen und Patienten jährlich ca. 160 Stunden Überprüfungszeit falsch-positiver Alarme einsparen.15

Der Weg von Innovationen in die regelversorgung ist zu lang

Die Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung bekommt u.a. durch das zunehmende Angebot digitaler Healthcare-Lösungen und KI-Systeme neuen Auftrieb, zeigte Prof. Dr. Stefan G. Spitzer, MVZ Praxisklinik Herz und Gefäße in Dresden, in seinem Vortrag. Dabei sei die Ambulantisierung nichts Neues. Seit Jahren schon gelte im Sozialgesetzbuch V der Grundsatz „ambulant vor stationär“. Zwei Fragen seien dafür konsequent wissenschaftlich zu beantworten: Welche Leistungen können qualitätsgesichert ambulant erbracht werden? Wann müssen sie als stationsersetzende Maßnahmen ambulant erbracht werden? Dabei, so betonte Spitzer, gehe es lediglich um den Vorrang der wirtschaftlicheren Versorgungsform und nicht um die Rangfolge von stationärer und ambulanter Leistungserbringung.

Bei den implantierbaren Herzmonitoren scheint diese Frage bereits beantwortet zu sein. Durch die fortschreitende Miniaturisierung der Geräte ist die ambulante Implantation – auch in der Klinik – be­reits seit 2014 möglich. Der Sonderfall der implantierbaren Herzmonitore zeige jedoch, wie es nicht sein sollte, betonte Spitzer. Die Prüfungen und Ablehnungen stationärer Implan­tationen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen nehmen seit 2016 kontinuierlich zu – mit dem Verweis, es sei eine ambulante Leistung. Gleichzeitig gebe es aber keine Abrechnungsziffer im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) für die ambulante Erstattung. Die stationären Fallzah­len gingen deshalb kontinuierlich zurück, mit Konsequenzen für die Versorgungssituation betroffener Patientinnen und Patienten. „Wir wissen, die Einführung von medizintechno­logischen Innovationen in die Regelversorgung braucht Zeit. Das hat eine gewisse Berechtigung. Allerdings sollte es nicht so viel Zeit brauchen wie hier“, meinte Spitzer. Spätestens mit der I A Klassifizierung der implantierbaren Herzmonitore in den ESC-Leitlinien für die Diagnose und das Management von Synkopen von 20186 hätte etwas passieren müssen, so Spitzer. Der Bewertungsausschuss, dem seit 2017 der Antrag auf Aufnahme in den EBM vorliegt, habe immer noch keine Entscheidung getroffen.

Offen ist die Frage, ob die Gesundheitspolitik solchen Fehlentwicklungen künftig einen Riegel vorschie­ben kann. Mit dem aktuellen Koalitionsvertrag will die Ampelkoalition einen neuen Versuch starten, die Ambulantisierung zu stärken und die Sektorengrenzen durchlässiger zu gestalten. Ein Ansatz soll die Einführung von so genannten Hybrid-DRGs sein, die vergleichbare Leistungen unabhängig vom Ort der Leistungserbringung – in Praxis, MVZ oder Krankenhaus – preisgleich vergüten sollen. Zudem sollen ambulante Operationen und weitere stationsersetzende Eingriffe in Krankenhäusern ausgeweitet wer­den. Das IGES-Gutachten empfiehlt rund 2.500 medizinische Leistungen, die zusätzlich in den Katalog für ambulantes Operieren (AOP-Katalog) aufgenommen werden sollen. „Das wird noch viele Diskus­sionen geben“, schloss Spitzer.

Weitere Informationen zu den AccuRhythm Algorithmen

Literatur

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2

Raghunath, S., Ulloa Cerna, A.E., Jing, L. et al. Nat Med 26, 886–891 (2020). https://doi.org/10.1038/s41591-020-0870-z

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5

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12

AccuRhythm Clinician Manual Supplements M015316C001 and M015314C001.

13

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Radtke A, Ousdigian KT, Haddad TD, et al. Artificial Intelligence Enables Dramatic Reduction of False Atrial Fibrillation Alerts from Insertable Cardiac Monitors. Heart Rhythm Journal. Published online August 1, 2021.

15

Ousdigian K, Cheng YJ, Koehler J, et al. Artificial Intelligence Dramatically Reduces Annual False Alerts from Insertable Cardiac Monitors. Presented at AHA Conference 2021.